Grundlagen der Religion sind ihrer Natur nach nicht mehrdeutig und unterziehen sich keiner Wandlung. Eben darum eignen sich die jeweiligen Inhalte dazu, Grundlagen zu sein. Die Fundamente des Islam sind dementsprechend der Kern der Religion. Zweigfragen hingegen entspringen dem Bereich des Mehrdeutigen innerhalb der Religion.
Das Vieldeutige begründet sich darin, dass die Primärquellen der Religion, also die Texte, wie auch die Kontexte dieser, vom Schöpfer innerhalb einiger Angelegenheiten bewusst mehrdeutig gestaltet wurden. In Folge dessen vertraten vor allem Rechtsgelehrte im Bereich der rituellen und praktischen Handlungen, nicht aber in den zentralen Glaubensfragen (siehe Grundlagen der Religion), jeweils verschiedene Ansichten zu einer einzigen Angelegenheit.
Diese Pluralität kennzeichnete die Ära der Prophetengefährten (ra) wie auch der Generationen nach ihnen, und aus eben dieser Vielfalt entstanden auch die uns heute bekannten Rechtsschulen, welche Jahrhunderte lang in einer wissenschaftlichen und gleichzeitig geschwisterlichen Auseinandersetzung nicht nur nebeneinander, sondern vielmehr miteinander die Zweigfragen der Religion diskutierten und gleichzeitig den allen gemeinsamen Kern der Religion auslebten. In diesem Sinne sei an dieser Stelle der fünfte rechtgeleitete Khalif, Umar ibn Abd Al- Asies (r) zitiert:
Bei Allah, es hätte mich nicht glücklich gemacht, wenn die Prophetengefährten niemals verschiedener Meinung gewesen wären. Immer wenn sie sich bezüglich einer Angelegenheit einig waren, bedeutete dies, dass wer auch immer eine andere Meinung vertrat, sich offenbar im Irrtum befindet. Wenn sie verschiedene Auffassungen hatten, bedeutete dies, dass all ihre Meinungen möglich bleiben und das die jeweilige Frage mit einem gewissen Spielraum einhergeht1 Umar ibn Abd Al- Asies (r)
Zu einem Entdecken der Grundlagen des Islam lade ich meine Mitmenschen ein.
An meine Glaubensgeschwister richtete sich die Einladung, im Bereich des Mehrdeutigen eine wissenschaftliche, geschwisterliche, demütige und zumindest tolerante Diskussion zu führen. Möge die folgende Abhandlung zur Frage nach der Berechnung oder Sichtung des Ramadan dazu dienlich sein – āmīn.
1. Vertiefung: Verschiedene Ansichten in Zweigfragen sind von Allāh gewollt und es kann auch mehrere richtige Ansichten geben
Meinungsverschiedenheiten sind u.a. aus den folgenden Gründen unumgänglich:
1.1. Heilige Texte sind von Allāh, dem Erhabenen und Weisen, mehrdeutig gestaltet worden
Ein Beispiel hierfür:
وَالْمُطَلَّقَاتُ يَتَرَبَّصْنَ بِأَنفُسِهِنَّ ثَلاثَةَ قُرُوءٍ
Und die geschiedenen Frauen sollen drei Zeitspannen warten.(Koran 2:228)
Zu denen, die unter Zeitspannen (قروء /qurūʾ) die Blutungsphasen innerhalb der Menstruation der Frau verstanden, gehören | Zu denen, die unter Zeitspannen (قروء / qurūʾ) die Reinheitsphasen innerhalb der Menstruation der Frau verstanden, gehören |
o Abū Bakr (ra) o ʿUmar (ra) o ʿAlī (ra) o Abū Ḥanīfa (r) | o ʿĀʾiša (ra) o Ibn ʿUmar (ra) o aš-Šāfiʿī (r) o Imam Mālik (r) o Imam Aḥmad (r) |
Wenn Allāh, der Erhabene, der Weise und Barmherzige, Eindeutigkeit gewollt hätte, so hätte Er die eindeutigen Worte ḥayḍ حيض für Blutungsphasen resp. اطهار für Reinheitsphasen verwendet. Konsequenz: Das Datum des Scheidungseintrittes bzw. der möglichen Neuheirat der Frau unterscheidet sich bei den Rechtsgelehrten.
1.2. Heilige Texte sind von Allah, dem Erhabenen und Weisen, innerhalb mehrdeutiger Kontexte offenbart worden
Als der Prophet (saw) im Rahmen einer Kriegssituation die Anweisung gab, zu einem Gebiet loszuziehen und das Nachmittagsgebet erst zu verrichten, wenn sie dort angekommen waren, beteten einige Gefährten das Gebet vorher, um die Zeit nicht zu verpassen. Ihr Argument war, dass der Prophet (saw) nicht beabsichtigte, die Zeit verstreichen zu lassen, sondern lediglich wollte, dass die Gefährten sich beeilen mögen. Der Gesandte (saw) erfuhr von dem Unterschied und kritisierte keine der beiden Gruppen.2 Beide Ansichten waren also nicht nur belohnt, weil sie durch kompetente intellektuelle Anstrengung zustande gekommen sind, sondern belohnt und richtig, denn ansonsten hätte der Prophet (saw) im Nachhinein korrigiert, bzw. korrigierten müssen!
1.3. Die Authentizität der aḥādīṯ ist nicht immer eindeutig geklärt
Ob „Wahrlich, Du brichst nicht Deine Abmachung“ zum Bittgebet, welches man nach dem Gebetsruf aufsagt, dazugehört, oder nicht, ist beispielsweise unter den Gelehrten umstritten. Schaikh Al- Albani (r) ist nicht dieser Auffassung, weil er den Hadith dazu als schwach einstuft, wohingegen er von Schaikh Bin Baz (r) und Schaikh Al- Utheimin (r) als authentisch genug betrachtet wird, als dass man danach handeln kann.
1.4. Situationsabwägungen können verschieden ausfallen
Beispielsweise haben nicht nur die großen Gelehrten verschiedene Auffassungen darüber, wie genau die Notsituation beschaffen sein muss, damit man Schweinefleisch gemäß dem folgenden Vers essen darf, vielmehr erwähnen einige auch, dass eine Situationsabwägung stattzufinden hat – und diese können bekannterweise verschiedentlich ausfallen3
إِنَّمَا حَرَّمَ عَلَيْكُمْ الْمَيْتَةَ وَالدَّمَ وَلَحْمَ الْخِنزِيرِ وَمَا أُهِلَّ بِهِ لِغَيْرِ اللَّهِ فَمَنْ اضْطُرَّ غَيْرَ بَاغٍ وَلا عَادٍ فَلا إِثْمَ عَلَيْهِ إِنَّ اللَّهَ غَفُورٌ رَحِيمٌ
Verboten hat Er euch nur (den Genuss von) natürlich Verendetem, Blut, Schweinefleisch und dem, worüber etwas anderes als Allāh angerufen worden ist. Wenn aber jemand (dazu) gezwungen ist, ohne (es) zu begehren und ohne das Maß zu überschreiten, so trifft ihn keine Schuld; wahrlich, Allāh ist allverzeihend, barmherzig.(Koran 2:173)
1.5. Fazit:
Wir müssen unseren Rechtsschulenfanatismus bzw. Gelehrtenkult ablegen, denn Allāh, der Weise und Allmächtige, hat die Zweigfragen der Religion oftmals mehrdeutig gestaltet – wir müssen dies, uns Allāh ergebend, akzeptieren und miteinander leben! Dies ist von Allāh gewollt und belohnt. Oft gibt es nicht ausschließlich eine richtige Antwort, sondern zwei oder mehrere Möglichkeiten, welche gleichermaßen richtig und belohnt sind. Auch können richtige und richtigere Auffassungen in einer Angelegenheit gleichzeitig existieren.
Abschließend seien zwei Zitate bedeutsamer Gelehrter zitiert, deren Inhalt für sich selbst spricht:
So sagte al-Layṯ b. Saʿd (r), welcher zur Generation der atbāʿ at-tābiʿīn, also zur zweiten Generation nach den Prophetengefährten gehörte:
Die Leute des Wissens sind Leute der Weite, des Erweiterns (at-tawsiʿa). Diejenigen, die Rechtsgutachten (fatwās) erlassen, haben immer Meinungsverschiedenheiten, so verbietet einer von ihnen etwas, das der andere erlaubt, ohne, dass sie sich hierbei gegenseitig Vorwürfe machen.4al-Layṯ b. Saʿd (r)
Aš-Šāfiʿī (r) sagte über al-Layṯ b. Saʿd: „Er war ein größerer Faqīh als Imam Mālik.“
Ibn Taymīya (r) stellte des Weiteren fest:
Der Konsens unter Gelehrten ist ein entscheidender Beleg und ihre Meinungsvielfalt eine weite Barmherzigkeit.(([Ibn Taymīya nach Muḫtaṣar al-fatāwa al-miṣrīya.))Aš-Šāfiʿī (r)
Einschub: Die Aussage eines Laien „Ich folge dem, was Allāh gesagt hat, bzw. was der Prophet (saw) gesagt hat, nicht was der Gelehrte sagt“ ist
a) Überheblichkeit und Einbildung, da er damit letztlich aussagt „Ich verstehe die Worte Allāhs und die Seines Gesandten – der Gelehrte aber nicht!“
und
b) eine Beschuldigung, da er damit letztlich aussagt: „Die anderen Imame und Muslime wollen lieber den Worten der Gelehrten als den Worten Allāhs und Seines Gesandten folgen!“
Eben in diesem Sinne sagte der ẓāhirītische Großgelehrte Ibn Ḥazm (r), dass „auch wenn das allgemeine Volk die Beweise der Gelehrten (muǧtahidūn) nicht kennt“, dies nicht auf die Falschheit eines Urteils deutet, und weiterhin: „wer dies leugnet, bezichtigt die Großgelehrten der Fehlerhaftigkeit und sagt, dass sie Gesetze erlassen ohne die Billigung Allāhs. Und dies zu sagen ist ein Fehler und ein Abkommen vom geraden Weg.5
2. Praktische Lektionen aus dem Ereignis, dass Ibn Masʿūd (ra) hinter dem Kalifen ʿUṯmān (ra) vier Gebetseinheiten in Minā betete, obwohl Ibn Masʿūd (ra) ihn eben dafür kritisierte.
Abū Dāwūd (r) berichtet, dass Ibn Masʿūd (ra) den Khalifen ʿUṯmān (ra) dafür kritisierte, in Minā vier anstelle von zwei Gebetseinheiten gebetet zu haben, jedoch betete Ibn Masʿūd (ra) dennoch hinter ihm und kürzte das Gebet nicht. Danach gefragt antwortete er: „Das Auseinandergehen ist ein Übel (al-ḫilāfu šarr))“, und weiterhin sagte er: „Hoffentlich sind zwei Gebetseinheiten von den vier bei Allāh angenommen.6
Unsere daraus entnommenen Lektionen:
- Keine Angriffe in Angelegenheiten des iǧtihāds7
- Die Entscheidung der Autoritäten hebt die Meinungsverschiedenheit in der Praxis auf
- Das Festhalten an den Benimmregeln, wenn man Meinungsverschiedenheiten diskutiert und
Prioritäten:
- Die Gemeinschaft ist zusammenzuhalten
- Ibn Masʿūd (ra) spricht von der Annahme des Gebets, also hat das Spirituelle Vorrang vor berechtigten Meinungsverschiedenheiten in Zweigfragen
Wir sind vereint in:
- Erziehung unserer Kinder. Stichworte: Kindergärten, Privatschulen, Freizeitangebote….
- Bildung
- Daʿwa, in der Aufklärungsarbeit über den Islam
- Humanitärer Hilfe, Einsatz für Gerechtigkeit und Menschlichkeit
- Sozialer Arbeit
Und haltet alle fest am Seile Allāhs und geht nicht auseinander!(Koran 3:103)
Wenn wir wirklich die Einheit der Muslime lieben, warum beschäftigen wir uns nur mir dem, was sie trennt? Wenn wir wirklich den Fortschritt der ummah zum Ziel haben, warum drehen wir uns nur im Kreis? Fragen wir uns: Wieviel unserer Energie wenden wir für den Konsens unter den Muslimen auf?!
2.1. Erinnerung: Zusammenhalt ist ein Schutz vor Versagen und ein Schutz vor Feinden
وَأَطِيعُوا اللَّهَ وَرَسُولَهُ وَلا تَنَازَعُوا فَتَفْشَلُوا وَتَذْهَبَ رِيحُكُمْ وَاصْبِرُوا إِنَّ اللَّهَ مَعَ الصَّابِرِينَ
Und gehorcht Allāh und Seinem Gesandten und hadert nicht miteinander, damit ihr nicht versaget und euch die Kampfkraft nicht verlässt. Seid geduldig; wahrlich, Allah ist mit den Geduldigen.(Koran 8:46)
Und Gott allein weiß es besser und ist über sämtliche Mängel erhaben!
Segenswünschen für S.D. für seine Transkription der arabischen Begriffe
- Quelle: Schaikh Salman Al- Audah: Is Disagreement Something Bad? In: http://en.islamtoday.net/artshow-414-447.htm (zuletzt abgerufen am 23.05.2014) [↩]
- Vgl. die diesbezüglich angeführten Überlieferung von al-Buḫārī (r). [↩]
- Vgl. Ausarbeitung von Schaikh Abu Ubaida Amin حد الضرورة التي تبيح تناول المحرم. Schaikh Abu Ubaida Amin hat an der Al- Azhar Universität Islamisches Recht studierte und gehörte zu den Jahrgangsbesten 1986. [↩]
- Überliefert von al-Bayhaqī in al-Madḫal und az-Zarkašī in at-Taḏkirah. [↩]
- Ibn Ḥazm, nach: ʿAwwāma: Aṯar al-ḥadīṯ aš-šarīf fī -ḫtilāf al-aʾimma al-fuqahāʾ, S. 119f. Beirut: Dār al-bašāʾir al-islāmīya, 1997. [↩]
- [Dies überliefert al-Buḫārī (r). Abū Dāwūd (r) erwähnte des Weiteren az-Zuhrī’s (r) Erklärung, dass ʿUṯmān (ra) den anwesenden Beduinen die gewöhnliche Form des Gebetes beibringen wollte. [↩]
- [Laienhaft erklärt ist der iǧtihād die intellektuelle Anstrengung zur Erlangung eines religiös-relevanten Urteils seitens der hierzu befähigten Gelehrten. [↩]