Der Artikel möge insbesondere von SozialarbeiterInnen und medizinischen Fachkräften im Rahmen von interkultureller und interreligiöser Bildung, die im Rahmen von Klientenzentrierung in diesen Berufsfeldern unabdingbar sind, verstanden werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entstehungsgeschichte des Textes:
Im März 2012 kam eine Mitarbeiterin von Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. auf meine Moscheegemeinde (www.iisev.de) zu. Thema war das gegenseitige Kennenlernen der benachbarten Institutionen sowie die Besprechung einer geplanten Moscheeführung. Diese war für die MitarbeiterInnen des Hauses sehr wichtig, da sie meinten, muslimische KlientInnen weniger erreichen zu können und weil sie aufgrund von Hörensagen unter Muslimen vermuten, dass Behinderung im Islam als Strafe Gottes gesehen wird. Nach dem aufklärenden Gespräch und der Moscheeführung haben wir drei Flyer für die Lebenshilfe ins Arabische ehrenamtlich übersetzt und uns dazu entschieden, unseren Gesprächsinhalt in eine Broschüre zu packen (der Euch vorliegende Text), um für andere Institutionen sowie für Muslime Aufklärung zu bieten. Diese Broschüre haben wir im November 2012 beim Netzwerktreffen „Frankfurt verbindet“ (im April 2012 wurde zwischen fünf Trägern der Behindertenarbeit ein Kooperationsvertrag für das Netzwerk „Frankfurt verbindet“ unterzeichnet) auf Einladung hin vorgestellt und sie wurde von allen TeilnehmerInnen begrüßt. Übermorgen, also am 02.10.2014 wird meine Gemeinde ein weiteres Mal auf Einladung hin am Netzwerktreffen teilnehmen.
Die Liebe Allahs Seiner vielfältigen Schöpfung gegenüber wird unter anderem in den folgenden Versen deutlich:
Und zu Seinen Zeichen gehört die Erschaffung der Himmel und der Erde und auch die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin sind wahrlich Zeichen für die Wissenden.30:22
O ihr Menschen, wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander kennenlernen mögt. Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.49:13
Dabei ist das einzige Maß, wonach Gott die Menschen bewertet, die zuletzt erwähnte Gottesehrfurcht. Dies wird auch durch die folgenden Worte des Propheten (saw) bestätigt.
Allah schaut nicht auf eure Gestalten und eure Güter, sondern auf eure Herzen und Taten.Muslim
Um diese Vielfalt zu ehren und zu schützen, verbot Gott im Quran, dass die Würde anderer angegriffen wird:
O ihr Gläubigen, die einen sollen nicht über die anderen spotten, vielleicht sind eben diese besser als sie. Auch sollen nicht Frauen über andere Frauen spotten, vielleicht sind eben diese besser als sie. Und beleidigt euch nicht gegenseitig durch Gesten und bewerft euch nicht gegenseitig mit hässlichen Beinamen (…).49:11
Der Islam lehrt uns ein anderes Verständnis und ändert unsere Wahrnehmung bezüglich der Schwachen im Allgemeinen – heute würden wir sagen Menschen in besonderen Lebenslagen, denn der Gesandte Allahs Muhammad (saw) sagte:
Denkt daran! Nur wegen der Schwachen unter euch wird euch geholfen und euch Lebensunterhalt von Gott gewährt.Bukhari
Allah segnet also eine Gesellschaft, in der Solidarität und Barmherzigkeit gelebt wird – und beide Werte lassen sich nur daran messen, inwiefern den Schwachen geholfen wird.
Um für einen alltäglich ungezwungen Umgang zwischen Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderung zu sorgen, offenbarte Allah folgenden Vers:
Es gibt für den Blinden keinen Grund zur Bedrängnis, es gibt für den Hinkenden keinen Grund zur Bedrängnis, es gibt für den Kranken keinen Grund zur Bedrängnis…24:61
Beispiele von Menschen mit körperlichen Einschränkungen aus der Frühzeit des Islam bis zum heutigen Tag
Abdullah ibn Masud (ra) wurde eines Tages wegen seiner dünnen Statur ausgelacht. Als der Prophet (saw) davon hörte, sagte er, dass am Tage des Gerichts die Füße von Abdullah ibn Masud (ra) in der Waage der guten Taten schwerer wiegen werden als der Berg namens Uhud.
Ata ibn Abi Rabah ist 33 Jahre nach der Auswanderung des Propheten (saw) geboren. Er war Sohn einer nubischen Familie, d.h. er hatte eine dunklere Hautfarbe im Vergleich zu den anderen Arabern. Darüber hinaus musste er sein Leben mit einer Lähmung meistern. Zu seiner Behinderung und seiner nicht-arabischen Abstammung kam noch hinzu, dass seine Vorfahren ehemalige Kriegsgefangene waren. All dies hielt ihn nicht davon ab, zum Mufti Mekkas aufzusteigen. (Ein Mufti ist der offiziell zuständige Richter für religiöse Rechtsfragen.)
Der Prophetengefährte Julaybib (ra) war kleinwüchsig und seine Abstammung war nicht bekannt – etwas, was unter den damaligen Arabern als großer Makel galt. So überraschte es nicht, dass er in der Zeit vor dem Islam von der Gesellschaft gemieden wurde. Der Prophet Muhammad (saw) jedoch legte erfolgreich Fürsprache in Sachen Heirat für ihn ein. Tatsächlich führten Julaybib (ra) und seine Frau daraufhin ein glückliches Familienleben.
Der Prophetengefährte Ibn Abbas (ra) berichtete von einer Frau, die Gott mit Epilepsie prüfte und er gab die Worte des Propheten (saw) weiter, dass wenn sie die Prüfung Gottes mit Geduld angeht, sie dadurch das Paradies erlangen wird. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Prüfung sie nicht daran gehindert hat, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen – sie wurde direkt an der Kaaba gesehen, dem Gotteshaus, was vom Propheten Ibrahim (Abraham, as) erbaut wurde.Bukhari
Ibn Um Maktuum (ra) war blind, jedoch erfuhr er als einziger die Ehre, ein Gebetsrufer für den Propheten (saw) sein zu dürfen und ihn in seiner Abwesenheit bei der Leitung der Gebete zu vertreten.
Im Quran sowie im Leben des Propheten Muhammad (saw) ist das Sozialstaatsprinzip verankert. Es ist geschichtlich festgehalten, dass muslimische Herrscher am Anfang des 8. Jahrhunderts hiesiger Zeitrechnung finanzielle, wie auch andere Hilfeleistungen für Bedürftigen garantierten. Dazu zählen Begleiter für Menschen mit Erblindung und Bedienstete für Menschen, die gelähmt waren.1
Im osmanischen Reich des 16. und 17. Jahrhunderts haben Taubstumme am Hof gearbeitet und sich durch Gebärdensprache verständigt und ihre Zeichensprache Höflingen, wie auch Sultanen beigebracht. Dies geschah zu einer Zeit, in der in Europa die Denk- und Lernfähigkeit Gehörloser immer noch debattiert wurde.2
Der heutige Großmufti Saudi Arabiens ist seit1960 blind, wie auch sein Vorgänger, welcher die letzten 50 Jahre seines Lebens mit dieser Prüfung verbrachte.
Lebensprüfungen als Quelle der Barmherzigkeit
Prüfungen des Schicksals gehören zum Leben dazu und mit diesen sind viele Weisheiten des Schöpfers und auch Barmherzigkeit verbunden – entgegen dem, was einige abergläubische Gedanken nahelegen könnten. Deswegen klärte der Prophet Muhammad (saw) diesbezüglich mit seinen Worten auf:
Niemals wird der Muslim Anstrengung, Krankheit, Trübsal, Kummer, Übel oder Schaden erleiden, selbst wenn ihn nur ein Dorn sticht, ohne dass Allah ihm dies als Sühne für seine Sünden zurechnet.Bukhari
Wem Allah Gutes zuteilwerden lassen will, den prüft er.Bukhari, Nr. 5645
Allah verspricht im Quran jedoch auch, dass mit jeder Prüfung auch Erleichterung einhergeht und dass alle Menschen ebenfalls mit den Fügungen des Schicksals umgehen können, bzw. könnten, wenn sie sich bemühen würden:
Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.2:286
Also gewiss, mit der Erschwernis geht Erleichterung einher, gewiss, mit der Erschwernis geht Erleichterung einher.94:5-6
Gelehrte, unter ihnen Ibn Hasm, haben festgehalten, dass auf Menschen, die geistig nicht zurechnungsfähig sind, das Paradies wartet, gemäß den Worten des Propheten Muhammad (saw):
Der Stift ist von drei Personengruppen enthoben: Kindern, bis sie die Pubertät erreichen, Schlafende, bis sie aufwachen und geistig nicht Zurechnungsfähige, bis sie einen klaren Verstand erlangen.Abu Dawud, Nr. 4402
Fazit
Wir können nun also festhalten, dass der Islam Respekt und Barmherzigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen lehrt und gleichzeitig eine Gesellschaftsform fordert und fördert, in welcher verwirklicht wird, dass Menschen mit Behinderungen gemäß ihren Bedürfnissen unterstützt werden und gemäß ihren Fähigkeiten am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
- Crone, Patricia (2005), Medieval Islamic Political Thought, Edinburgh University Press, p. 307, ISBN 0-7486-2194-6. In: Bayt al-mal, http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Bayt_al-mal&oldid=514617068 (zuletzt besucht am 03.09.2014) [↩]
- MILES M (2000) Signing in the Seraglio: mutes, dwarfs and jestures at the Ottoman court 1500-1700. Disability & Society 15: 115-134. http://www.independentliving.org/docs4/mmiles2.html, in: http://www.independentliving.org/docs7/miles200701.html (zuletzt besucht am 03.09.2014) [↩]